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Späte Sprengkraft

Späte Sprengkraft
Die Liebe - eine von insgesamt 22 Skulpturen aus Johannes Dörflingers Kunstgrenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz. Das Werk wird in diesem Jahr 10 Jahre alt. | © Michael Lünstroth

Europa am Abgrund, Grenzen und Mauern wachsen aus Neue: Die Kunstgrenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz war schon vor zehn Jahren ein Symbol der Offenheit und Toleranz. Viele erkennen das erst jetzt. Die Geschichte einer Idee, die ihrer Zeit voraus war.

An schönen Tagen kann man ihn noch immer hier unten treffen. Er läuft die rund 300 Meter vom Parkplatz bis zum Bodenseeufer hinunter und beobachtet, was die Menschen mit seiner Arbeit machen. Er steht dann in dunklem Anorak, drunter meist eine Wollweste, dunkler Hose und mit leuchtend weissem Haar da und freut sich. „Es ist schön zu sehen, wie die Menschen mit den Figuren umgehen, wie sie interagieren", sagt Johannes Dörflinger, der Mann mit Anorak, Wollweste und weissem Haar.

76 Jahre alt ist er inzwischen, er war lange Zeit mal so etwas wie der einzige international bekannte, zeitgenössische Künstler aus Konstanz, dass er es nicht mehr ist, hat ihn nicht verbittert. Er ist freundlich wie eh und je. So wie seine Skulpturen am Bodenseeufer, die er an schönen Tagen noch immer besucht. 22 Stück an der Zahl, jede acht Meter hoch und aus massivem Edelstahl. Bekannt sind die Werke in ihrer Gesamtheit als Kunstgrenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz.

Vor zehn Jahren wurde diese Kunstgrenze direkt an der deutsch-schweizerischen Landesgrenze der Öffentlichkeit übergeben. Wie geht es dem Künstler heute mit dem Werk, eine Dekade nach Fertigstellung? „Ich freue mich heute fast noch mehr darüber als damals, aber es ist auch eine andere Freude. Am Anfang war es eine Tarot-Spielerei, heute sehe ich die Arbeit auch als eine Variante, wie man mit Grenzen umgehen kann", sagt Dörflinger. Für ihn die grösste Leistung des Werkes? Sie verbinde Ästhetik und politische Aussage, ist der Künstler überzeugt. Wirklich?

Der Künstler und sein Werk: Johannes Dörflinger an der Kunstgrenze an einem Wintertag. Bild: Dörflinger-Stiftung

Rückblende. Am 28. April 2007 wird die Kunstgrenze eröffnet, wenn man das bei Kunst im öffentlichen Raum so sagen kann. Würdenträger aus der Schweiz und Deutschland sind vor Ort und sprechen warme Worte. Die Idee hinter dem Projekt: Johannes Dörflicher stellte die Grossen Arkana, also die Trümpfe, des Tarot in seinen Figuren dar. Für ihn sind es Urfiguren, die für die Öffnung im geistigen wie weltlichen Horizont stehen.

Was ihn dazu bewegte? „Es sollen grundsätzliche Fragen auftauchen, die wirklich jeden betreffen können. Die Namen dieser Ariana-Figuren sind ganz normale Namen: Gerechtigkeit, Narr, Wagen, Sonne, Mond und Sterne. Das sind einfache Dinge, die doch vielleicht das Schwierigste sind", erklärt er in einem Gespräch mit Siegfried Gohr, das in dem Ausstellungsbuch „Kunstgrenze. Skulptur. Idee. Ort" veröffentlicht ist.

Derweil klopften sich die Politiker bei der Eröffnungsfeier gegenseitig auf die Schulter und waren stolz, dass der Coup gelungen war: Die weltweit erste Kunstgrenze entsteht tatsächlich in den kleinen Randstädten Kreuzlingen und Konstanz. So harmonisch liefen die Vorbereitungen des Projektes in den Jahren zuvor selten. Im Juli 2004 wird das Vorhaben der Öffentlichkeit vorgestellt, es folgen fast drei Jahre zäher Verhandlungen mit den jeweiligen Zollämtern, juristischer Auseinandersetzungen, langsamer politischer Entscheidungsprozesse und harter öffentlicher Debatten über das Für und Wider dieser Kunstgrenze. Angesichts all der Hürden, die das Projekt nehmen musste, ist es heute eher erstaunlich, dass es überhaupt realisiert wurde.

Was ist los, wenn zwei Politiker von der Magie des Ortes schwärmen?

Dass es so weit kam, liegt vor allem auch an Josef Bieri und Horst Frank. Der damalige Kreuzlinger Stadtamann und der Konstanzer Oberbürgermeister haben das Projekt massgeblich initiiert und auf den Weg gebracht. Wie das gehen konnte? Nun ja, sagt Horst Frank, inzwischen vom Amt befreit wie Bieri, „das hat auch damit zu tun, dass wir beide so gut miteinander arbeiten konnten". Bieri nickt dazu. „Es gab damals auch mehr Menschen in beiden Städten, die gemeinsam etwas erreichen und schaffen wollten", ergänzt der Ex-Stadtamann, der von Haus aus Historiker ist.

Kurze Zwischenfrage: Ist das heute nicht mehr so? Bieri schaut Frank an, Frank schaut Bieri an, beide lächeln. „Sagen wir es so, das Verhältnis von Konstanz und Kreuzlingen ist im Laufe der Jahre mal besser, mal schlechter gewesen. Heute ist es wohl eher wieder komplizierter", glaubt Horst Frank.

Wir treffen die beiden an einem sonnigen Montag im April. Blauer Himmel über blauem See, die Kunstgrenze leuchtet in ihrem Kolibri-Rot. Sie hat ihre Reize bei allen Wetterlagen. Aber Sonnenschein und blauer Himmel, das ist quasi ihre Ausgehuniform. „Ich komme immer noch gerne hierher", sagt Josef Bieri, „die Idee, Kunst anstelle von Zäunen zu setzen, war damals der zündende Funke für alle Gespräche", erinnert er sich.

Die Hoffnungen haben sich erfüllt, findet er. „Es ist ein ganz besonderer Ort geworden." An diesem Montagmorgen ist es vor allem ein stiller Ort. Nicht viele Menschen verlieren sich hier. Die die da sind, beachten die Kunst kaum. Ein Grund dafür ist die fehlende Vermittlungsarbeit vor Ort. Als zufälliger Besucher wird man mit den Werken allein gelassen. Dass es am Anfang des Skulpturenweges eine kleine Erklärtafel gibt, wissen nur die wenigsten. Trotzdem sind die beiden Ex-Politiker überzeugt, dass es der richtige und einzig mögliche Ort für die Arbeiten ist. „Sie machen den Platz ein bisschen magisch", sagt Horst Frank. Eine verblüffende Antwort von einem, der bisher nicht für seine Affinität zur Magie bekannt war.

Zwei Väter der Kunstgrenze: Die beiden früheren Stadtoberhäupter Josef Bieri (links, Kreuzlingen) und Horst Frank (rechts, Konstanz)Zwei Väter der Kunstgrenze: Die beiden früheren Stadtoberhäupter Josef Bieri (links, Kreuzlingen) und Horst Frank (rechts, Konstanz). Bild: Michael Lünstroth

Projekt des Aberglaubens? Kirchen sorgen sich um ihre Schäfchen

Es gab ja auch mal Zeiten, in denen das mit dem Zauber ganz unmagisch hätte scheitern können. Die Kritik an dem Projekt war eine Weile auf beiden Seiten der Grenze ziemlich massiv. Neben durchaus berechtigten Zweifeln an der ohne Ausschreibung erfolgten Vergabe an einen mit dem Oberbürgermeister Frank zumindest bekannten Künstler, gab es allerdings auch manches, das übers Ziel hinaus schoss.

Kirchenleute befürchteten, die Tarotfiguren könnten „für viele Menschen ein positives Signal in Richtung Aberglauben senden", die Konstanzer Tageszeitung „Südkurier" lederte nach der politischen Entscheidung für die Kunstgrenze: „Schade, der Gemeinderat hat die Gelegenheit verschenkt, an dieser historisch belasteten, aber auch faden Grenzlinie etwas Ortsbezüglicheres zu bekommen als einen pathetischen Aufmarsch von Symbolen, die der Volksmund närrisch respektlos zum esoterischen Zahnarztbesteck erklären wird."

Auf Thurgauer Seite ging es im Vergleich dazu konstruktiv zu. Markus Landert, damals Konservator am Kunstmuseum Thurgau, heute dessen Direktor, nannte das Projekt eine „verpasste Chance". Er kritisierte vor allem, dass kein Wettbewerb ausgeschrieben wurde und das Fehlen einer Kommission aus Kunstexperten, Politikern und Raumplanern, die einen fundierten künstlerischen Gestaltungsplan der Idee Kunstgrenze hätten ausarbeiten können.

Spricht man mit Johannes Dörflinger heute über all die Kritik an seiner Arbeit, dann winkt er fast ein bisschen ab, so als möge er das alles nicht mehr hören. „Ach, der Esoterik-Vorwurf", sagt er dann doch. Das sei ohnehin immer ein Missverständnis gewesen. Esoterik habe ihn nie interessiert. „Ich halte es mit C.G. Jung, der das Tarot verwendet, um damit innere Bilder zu malen. Die Kunstgrenze richtet sich an jeden Betrachter. Die Interpretation ist ihm dabei freigestellt", sagt er.

Für ihn sind die Figuren Archetypen. „Sie sind Phänomene, die zugedeckt und auf aufgedeckt werden können, die mehr oder weniger sichtbar sind", so Dörflinger. Es ist des Künstlers Ringen um die Bedeutung seines Werkes und gegen die Deutung seiner Arbeit. Das kennt man aus der zeitgenössischen Kunst. Das Problem dabei: Damit macht es der Künstler seinen Kritikern natürlich auch leicht. Er öffnet gewissermassen selbst die Tür zum Beliebigkeits- und Schwammigkeitsvorwurf. Aber stimmt das auch?

Die Ohnmacht einer Idee, deren Zeit noch nicht gekommen ist

Vielleicht ist es auch die klassische Geschichte einer Idee, die ihrer Zeit voraus war. Wie war das damals bei Victor Hugo? „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist." Vielleicht gilt ja auch der Umkehrschluss: Nichts ist ohnmächtiger als eine Idee, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Vielleicht hat man damals über all den Aberglaubens-Esoterik-Nonsens noch nicht verstanden, welche Kraft in den Arbeiten tatsächlich liegt? Wer weiss das schon?

All das bleiben aber: Mutmassungen über Johannes. Wahr ist hingegen - die Kunstgrenze ist wohl so aktuell wie nie. In einer Welt, in der neue Mauern und Grenzen entstehen. In einer Welt, in der wir uns und die Welt trotz explodierter Kommunikationsmöglichkeiten, nicht mehr richtig verstehen, ist Dörflingers Arbeit mehr denn je ein Symbol von Offenheit, Toleranz und Grenzsprengung. Schliesslich ging es ja nie nur um die Auflösung von territorialen Grenzen, sondern auch um das Überschreiten von sozialen, kulturellen und sonstigen gesellschaftlichen Grenzen.

Die grösste Leistung der Kunstgrenze? Sie verbinde Ästhetik und Politik, findet der Künstler Johannes Dörflinger. Bild: Dörflinger-Stiftung

Aus den Höhen der Kunst noch einmal in die Niederungen der Politik. Wie war das jetzt nochmal mit den Kosten? Genau beziffern kann das heute kaum einer. Finanziert wurde der Skulpturenweg von der in Kreuzlingen angesiedelten Johannes-Dörflinger-Stiftung, hinter der damals vor allem das Ehepaar Rosenburg steckte. Sie verstanden sich als klassische Mäzene, angeblich sollen sie bis zu 1 Million Franken in das gesamte Vorhaben gesteckt haben. So genau weiss das keiner. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht.

Die Stiftung schenkte die Kunstgrenze dann den beiden Städten unter der Bedingung, dass Konstanz und Kreuzlingen für die Instandhaltung sorgen. Das kostet die öffentliche Hand im Jahr im Schnitt hier wie dort jeweils einen mittleren vierstelligen Betrag. Eigentlich ein Schnäppchen. „Ohne das Engagement der Stiftung hätte das nicht funktioniert. Die Städte alleine hätten das niemals finanzieren können", sagt Horst Frank.

Wer will, kann das natürlich auch so deuten, dsss hier vor allem finanzielle und weniger künstlerische Gründe den Ausschlag für Dörflingers Werk gegeben haben könnten. Dass vielleicht andere Künstler mit anderen Werken gar keine Chance hatten, ihre Ideen zu realisieren, weil sie keinen Millionär in der Hinterhand hatten und den Städten nicht so ein komfortables Angebot servieren konnten. Mag sein. Aber darf man das dem Künstler, kann man das dem Werk wirklich vorwerfen, dass es finanzkräftige Freunde hat? Und was änderte es an der Botschaft des Werkes? Die Antworten darauf sind wohl vor allem eines - Ansichtssache.

Der CVP-Mann und der Grüne - auch so eine Geschichte

Horst Frank blickt noch einmal hoch zum "Eremit". Dann schnallt er seinen Rucksack auf und geht los, Josef Bieri an seiner Seite. Die beiden mögen sich offenbar noch immer. Auch das ist ja eine dieser kleinen Geschichten rund um die Kunstgrenze. Der konservative CVP-Mann Bieri hier, und der in seinen jungen Jahren mal sehr grüne Frank dort. Dass sich die beiden auf dieses Projekt verständigen konnten, auch das sagt ja ein bisschen was über das Werk aus.

Es wird Mittag, die Sonne steht hoch am blauen Aprilhimmel. Im Gehen plaudern die beiden früheren Stadtoberhäupter über alte Zeiten, scherzen, irgendwann, sie haben längst „Sonne und Mond", „Teufel und Turm", „Tod und Wiedergeburt" und das „Universum" passiert, verlieren sich ihre Stimmen im Wind. Johannes Dörflinger hätte seine Freude an dieser Szene gehabt.

Die Feierlichkeiten zu 10 Jahre Kunstgrenze

Die Kunstgrenze feiert am Freitag, 28. April, ihren zehnten Geburtag. Entlang den Tarot-Skulpturen sollte an diesem Tag eigentlich eine lange Tafe stehen für ein gemeinsames Picknick. Gewissermassen als soll Symbol der guten Nachbarschaft zwischen Kreuzlingen und Konstanz, Deutschland und der Schweiz. Wegen des schlechten Wetters wird der Anlass nun in die nahe Bodensee-Arena verlegt. Trotzdem gilt weiterhin: "Jeder bringt seine Speisen, Getränke und Ideen mit, richtet den Tisch und ist gespannt, wer sein Gegenüber oder Tischnachbar sein wird", heisst es auf der Internetseite zum Jubiläum. Ab 17 Uhr geht es los.  Die Veranstalter bitten um Anmeldung über diese Internetseite: http://www.kunstgrenze.org/index.php?option=com_breezingforms&view=form&Itemid=394&lang=de 

Weiterlesen:

1. Rede der damaligen Schweizer Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz zur Eröffnung der Kunstgrenze im April 2007: 

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-12303.html 

2. Erklärungen zu allen Skulpturen der Kunstgrenze: 

http://www.kunstgrenze.org/skulpturen 

3. Die Konstanzer Kunstgrenze zur Schweiz feiert ihr zehnjähriges Bestehen. Dabei haben Grenzen bei Europas Intellektuellen und Künstlern zurzeit einen schlechten Ruf: zu Unrecht, findet Südkurier-Kulturredaktor Johannes Bruggaier: 

http://www.suedkurier.de/nachrichten/kultur/Freiheit-braucht-auch-Passkontrollen;art10399,9220961 

Weitergucken: Bilder von der Kunstgrenze (alle Quelle: Dörflinger-Stiftung)

So sah es dort vor der Kunstgrenze aus: Der alte Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen. Noch mehr Bilder von der Kunstgrenze gibt es hier: http://www.kunstgrenze.org/bestehende-bilder 

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